BA Projekt: Warum geht das in Wien und in Berlin nicht?
Dozent: Lehr­be­auf­tragter Roland Schröder
WiSe 2021/22
2 SWS / 12 ECTS

BA Projekt: Warum geht das in Wien und in Berlin nicht?

Jähr­lich führt das inter­na­tio­nale Bera­tungs-Unter­nehmen Mercer eine Studie zur Bewer­tung der Lebens­qua­lität in 231 Metro­polen welt­weit durch. Auch 2019 stellten die Ergeb­nisse der Studie Wien das beste Zeugnis aus und kürten die öster­rei­chi­sche Bundes­haupt­stadt bereits zum zehnten Mal in Folge zur lebens­wer­testen Stadt welt­weit. Bewertet wurden das poli­ti­sche, soziale und ökono­mi­sche Klima, die medi­zi­ni­sche Versor­gung, Ausbil­dungs­mög­lich­keiten, infra­struk­tu­relle Voraus­set­zungen wie das bestens ausge­baute öffent­liche Verkehrs­netz, Strom- und Wasser­ver­sor­gung. Frei­zeit­an­ge­bote wie Restau­rants, Theater, Kinos, Sport­mög­lich­keiten, die Verfüg­bar­keit und Qualität von Konsum­gü­tern sowie die Natur und Umwelt­be­din­gungen werden eben­falls bewertet.[1]

Das Studi­en­pro­jekt wird unter­su­chen, warum Wien so erfolg­reich agiert und in welchen Hand­lungs­fel­dern der Stadt­ent­wick­lung die Stadt Wien eigene und inno­va­tive Wege beschreitet, von denen andere Städte wie Berlin lernen können. Im Folgenden werden einige Hand­lungs­felder beleuchtet.

Seit über 100 Jahren betreibt die Stadt den Bau kommu­naler Wohnungen. Dafür wurde eigens eine Wohn­bau­steuer einge­führt. An den darüber finan­zierten städ­ti­schen Wohn­ge­bäuden kann die Errich­tung mitsamt Baujahr und Finan­zie­rung durch eine Aufschrift an der Fassade iden­ti­täts­stif­tend nach­voll­zogen werden. Neue Stadt­ent­wick­lungs­ge­biete werden stets inte­griert geplant und errichtet. Sowohl im Innen­stadt­be­reich auf nicht mehr benö­tigten Eisen­bahn­flä­chen (Haupt­bahnhof, Nord­bahnhof) als auch am Stadt­rand mit der Seestadt werden neue Stadt­quar­tiere errichtet, die sehr gut von der Bevöl­ke­rung ange­nommen wurden und sich städ­te­bau­lich gut einfügen.

Das engma­schige ÖPNV-Netz mit seinen dichten Takten und der konti­nu­ier­liche Ausbau von U‑Bahn und Stra­ßen­bahn bieten gute Voraus­set­zungen für ein Leben ohne eigenen PKW. Die Stadt Wien hat schon vor etli­chen Jahren ein 365 €-Ticket einge­führt und erhebt zugleich eine U‑Bahn-Steuer bei Unter­nehmen. Der Modal-Split sieht dementspre­chend günstig aus. Parallel werden auch die Voraus­set­zungen für den Rad- und Fußver­kehr konti­nu­ier­lich verbes­sert, wobei der Fokus auf mach­baren Lösungen und nicht bei opti­malem Ausbau­zu­ständen liegt.

Anders als in Berlin wird die Umge­stal­tung der Stadt­räume ziel­ge­richtet ange­gangen, so entstehen überall Park­lets, die vorrangig von der Gastro­nomie betrieben werden. An einigen Stellen sind sie aber einfach als lokale Treff­punkte von Anwohner:innen ausge­bildet oder werden als kleine grüne Inseln mit bienen­freund­li­chen Stauden bepflanzt. Gehweg­vor­stre­ckungen, Kreu­zungs­um­bauten oder auch größere Stra­ßen­raum­um­ge­stal­tungen wie in der Maria­hilfer Straße lassen auf eine lange Geschichte der Trans­for­ma­tion der Stadt­räume blicken. Der Betei­li­gung der Bevöl­ke­rung wird gerade in diesem Zusam­men­hang ein großer Raum einge­räumt. Doch nicht nur bei der Umge­stal­tung von Stra­ßen­räumen wird die Mitsprache der Bevöl­ke­rung ermög­licht. Der Master­plan Parti­zi­pa­tion, die Service­stelle Stadt­ent­wick­lung, die Stabs­stelle Bürge­rIn­nen­be­tei­li­gung und Kommu­ni­ka­tion sowie die lange Liste der Vorhaben und Projekte der Wiener Stadt­ent­wick­lung zeugen von akti­vie­renden, viel­fäl­tigen Betei­li­gungs­for­maten, die früh­zeitig ansetzen. Diese Heran­ge­hens­weise bewirkt deut­lich mehr Betei­li­gung und zielt nicht auf die forma­li­sierte Abar­bei­tung bekannter Formate, mit denen letzt­lich nur ein Akzep­tanz­ma­nage­ment für vorge­fasste Projekt­ziele erreicht werden soll.

Der andere Umgang mit dem öffent­li­chen Raum ist auch bei der Gestal­tung von Grün­flä­chen und Park­an­lagen fest­zu­stellen. Mit dem Prater oder auch der Donau­insel sind große und sehr beliebte Anlagen der Naherho­lung vorhanden. Sie verfügen über weite Wege­netze und weisen land­schaft­lich gestal­tete wie auch natur­be­las­sene Flächen auf. Mittels der guten Beschil­de­rungen von Wege­ver­bin­dungen und durch Plan­dar­stel­lungen der Grün­an­lagen wird eine opti­male Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung gewähr­leistet. Selbst kleine Wild­blu­men­wiesen in Pocket-Parks sind häufig mit Schil­dern oder auch QR-Codes erläu­tert. In den Parks sind in bemer­kens­werter Dichte öffent­liche Toiletten vorhanden, die in vielen Fällen kosten­frei zugäng­lich sind. Notfall­pa­kete mit Defi­bril­la­toren sind eben­falls vorhanden. Auf den Grill- und Feuer­plätzen der Donau­insel liegt sogar Feuer­holz bereit.

An fast allen U‑Bahnhöfen sind öffent­liche Toiletten vorhanden, die nur selten eine Gebühr erheben. Immer öfter sind auch Wasser­spender vorhanden. Verein­zelt finden sich Wasser­zer­stäuber, mit denen das örtliche Klima verbes­sert werden soll.

In Wien scheint die Devise vorzu­herr­schen, dass alles was nicht ausdrück­lich verboten ist, erlaubt ist oder erlaubt werden kann. Dazu zählen das Neben­ein­ander von Fußball­sta­dion und Wohnen, eine Viel­zahl unter­schied­li­cher Ampel­fi­guren, bunte Fußgänger:innenüberwege, Einbahn­stra­ßen­sys­teme mit gegen­läu­figem Radver­kehr, Elek­tro­karren ohne KfZ-Zulas­sung, Unter­schrei­tung von Mindest­breiten bei Fuß- und Radwegen, Stra­ßen­bahnen in Seiten­lage, etc.

Die zuvor beschrie­benen Aspekte sollen von den Mitglie­dern des Projektes unter­sucht werden. Dabei soll heraus­ge­ar­beitet werden, welche Rahmen­be­din­gungen eine Voraus­set­zung für die beschrie­bene Planungs­kultur sind. Folgende Fragen sollen beant­wortet werden

  • Haben die Bewohner:innen, die Stadt­ver­wal­tung und die Stadt­po­litik einen gemein­samen Grund­kon­sens über Lebens­qua­lität und Stadtentwicklung?
  • Wie hoch ist die Akzep­tanz der Finan­zie­rung durch geson­derte Steuern
  • Welche Bedeu­tung kommt der poli­ti­schen Stabi­lität zu?
  • Ist die lang­jäh­rige poli­ti­sche Konti­nuität als Ausdruck einer über­wie­genden Zufrie­den­heit mit der Stadt­ent­wick­lung und dem Stand der Daseins­vor­sorge zu sehen?
  • Wie stark iden­ti­fi­zieren sich die Bewohner:innen Wiens mit der Stadt und der Stadtpolitik?
  • Welche Rolle spielt die Betei­li­gung dabei

Zur Beant­wor­tung dieser Frage­stel­lungen sind zunächst die Grund­lagen und Rahmen­be­din­gungen zu erar­beiten. Dazu gehören die Analyse der Gesetze, der Verwal­tungs­struk­turen und der Planungs­kultur sowie der stadt­po­li­ti­schen Verhält­nisse. Auf diese Weise werden die wesent­li­chen Unter­schiede zu Berlin ermit­telt und für die verschie­denen Hand­lungs­felder aufbe­reitet. Zentrales Element ist die Durch­füh­rung von mindes­tens einer Exkur­sion in die Stadt Wien. Die Bereit­schaft zur Teil­nahme an einer Exkur­sion im Mai 2022 sowie einer mögli­chen weiteren Exkur­sion noch im Laufe des Winter­se­mes­ters 2021/2022 ist daher eine Teil­nah­me­vor­aus­set­zung. Im Rahmen der Exkursion(en) werden mit maßgeb­li­chen Akteur:innen aus Stadt­pla­nung, Stadt­po­litik, Gesell­schaft und Wirt­schaft Expert:innengespräche geführt. Zugleich werden wir uns vor Ort Best-Prac­tice-Beispiele ansehen und der Iden­tität der Wiener:innen mit ihrer Stadt nach­spüren. Zu Beginn des Projektes werden wir über Video­kon­fe­renzen früh­zeitig mit maßgeb­li­chen Akteur:innen einen ersten Austausch ermöglichen.

Im Ergebnis zielt das Studi­en­pro­jekt darauf ab, dass

  • ein Wissens­transfer zur Behe­bung des Berliner Umset­zungs­staus erfolgt und
  • ein konkreter Hand­lungs­leit­faden mit klar defi­nierten Vorge­hens­weisen bzw. Hand­lungs­an­wei­sungen erstellt und verbreitet wird.

Dieser Hand­lungs­leit­fa­dens soll eine Umset­zungs­stra­tegie für die zentralen Hand­lungs­felder, konkrete Maßnahmen für eine lebens­wer­tere Stadt­raum­ge­stal­tung mit mehr Lebens- und Aufent­halts­qua­lität in Berlin, die schritt­weise Verbes­se­rung der Daseins­vor­sorge in Berlin und Wege zur Beschleu­ni­gung der Mobi­li­täts­wende und für einen wirk­sa­meren Klima­schutz umfassen[1] https://www.wien.info/de/lifestyle-szene/lebenswerteste-stadt-350746, Zugriff: 13.10.2021

Weitere Infor­ma­tionen zur Veran­stal­tung auf ISIS.

Abbildung: LABOR K