B2/B4 | Bachelor-Projekt
Umfang: 8 SWS / 12 ECTSTyp: Projektseminar
Sprache: DE / EN
Start: 19.04.2022
Dienstags 10–14 Uhr
Raum: EB 223
BA Projekt: Warum geht das in Wien und in Berlin nicht?
Jährlich führt das internationale Beratungs-Unternehmen Mercer eine Studie zur Bewertung der Lebensqualität in 231 Metropolen weltweit durch. Auch 2019 stellten die Ergebnisse der Studie Wien das beste Zeugnis aus und kürten die österreichische Bundeshauptstadt bereits zum zehnten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt weltweit. Bewertet wurden das politische, soziale und ökonomische Klima, die medizinische Versorgung, Ausbildungsmöglichkeiten, infrastrukturelle Voraussetzungen wie das bestens ausgebaute öffentliche Verkehrsnetz, Strom- und Wasserversorgung. Freizeitangebote wie Restaurants, Theater, Kinos, Sportmöglichkeiten, die Verfügbarkeit und Qualität von Konsumgütern sowie die Natur und Umweltbedingungen werden ebenfalls bewertet.[1]
Das Studienprojekt wird untersuchen, warum Wien so erfolgreich agiert und in welchen Handlungsfeldern der Stadtentwicklung die Stadt Wien eigene und innovative Wege beschreitet, von denen andere Städte wie Berlin lernen können. Im Folgenden werden einige Handlungsfelder beleuchtet.
Seit über 100 Jahren betreibt die Stadt den Bau kommunaler Wohnungen. Dafür wurde eigens eine Wohnbausteuer eingeführt. An den darüber finanzierten städtischen Wohngebäuden kann die Errichtung mitsamt Baujahr und Finanzierung durch eine Aufschrift an der Fassade identitätsstiftend nachvollzogen werden. Neue Stadtentwicklungsgebiete werden stets integriert geplant und errichtet. Sowohl im Innenstadtbereich auf nicht mehr benötigten Eisenbahnflächen (Hauptbahnhof, Nordbahnhof) als auch am Stadtrand mit der Seestadt werden neue Stadtquartiere errichtet, die sehr gut von der Bevölkerung angenommen wurden und sich städtebaulich gut einfügen.
Das engmaschige ÖPNV-Netz mit seinen dichten Takten und der kontinuierliche Ausbau von U‑Bahn und Straßenbahn bieten gute Voraussetzungen für ein Leben ohne eigenen PKW. Die Stadt Wien hat schon vor etlichen Jahren ein 365 €-Ticket eingeführt und erhebt zugleich eine U‑Bahn-Steuer bei Unternehmen. Der Modal-Split sieht dementsprechend günstig aus. Parallel werden auch die Voraussetzungen für den Rad- und Fußverkehr kontinuierlich verbessert, wobei der Fokus auf machbaren Lösungen und nicht bei optimalem Ausbauzuständen liegt.
Anders als in Berlin wird die Umgestaltung der Stadträume zielgerichtet angegangen, so entstehen überall Parklets, die vorrangig von der Gastronomie betrieben werden. An einigen Stellen sind sie aber einfach als lokale Treffpunkte von Anwohner:innen ausgebildet oder werden als kleine grüne Inseln mit bienenfreundlichen Stauden bepflanzt. Gehwegvorstreckungen, Kreuzungsumbauten oder auch größere Straßenraumumgestaltungen wie in der Mariahilfer Straße lassen auf eine lange Geschichte der Transformation der Stadträume blicken. Der Beteiligung der Bevölkerung wird gerade in diesem Zusammenhang ein großer Raum eingeräumt. Doch nicht nur bei der Umgestaltung von Straßenräumen wird die Mitsprache der Bevölkerung ermöglicht. Der Masterplan Partizipation, die Servicestelle Stadtentwicklung, die Stabsstelle BürgerInnenbeteiligung und Kommunikation sowie die lange Liste der Vorhaben und Projekte der Wiener Stadtentwicklung zeugen von aktivierenden, vielfältigen Beteiligungsformaten, die frühzeitig ansetzen. Diese Herangehensweise bewirkt deutlich mehr Beteiligung und zielt nicht auf die formalisierte Abarbeitung bekannter Formate, mit denen letztlich nur ein Akzeptanzmanagement für vorgefasste Projektziele erreicht werden soll.
Der andere Umgang mit dem öffentlichen Raum ist auch bei der Gestaltung von Grünflächen und Parkanlagen festzustellen. Mit dem Prater oder auch der Donauinsel sind große und sehr beliebte Anlagen der Naherholung vorhanden. Sie verfügen über weite Wegenetze und weisen landschaftlich gestaltete wie auch naturbelassene Flächen auf. Mittels der guten Beschilderungen von Wegeverbindungen und durch Plandarstellungen der Grünanlagen wird eine optimale Informationsvermittlung gewährleistet. Selbst kleine Wildblumenwiesen in Pocket-Parks sind häufig mit Schildern oder auch QR-Codes erläutert. In den Parks sind in bemerkenswerter Dichte öffentliche Toiletten vorhanden, die in vielen Fällen kostenfrei zugänglich sind. Notfallpakete mit Defibrillatoren sind ebenfalls vorhanden. Auf den Grill- und Feuerplätzen der Donauinsel liegt sogar Feuerholz bereit.
An fast allen U‑Bahnhöfen sind öffentliche Toiletten vorhanden, die nur selten eine Gebühr erheben. Immer öfter sind auch Wasserspender vorhanden. Vereinzelt finden sich Wasserzerstäuber, mit denen das örtliche Klima verbessert werden soll.
In Wien scheint die Devise vorzuherrschen, dass alles was nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt ist oder erlaubt werden kann. Dazu zählen das Nebeneinander von Fußballstadion und Wohnen, eine Vielzahl unterschiedlicher Ampelfiguren, bunte Fußgänger:innenüberwege, Einbahnstraßensysteme mit gegenläufigem Radverkehr, Elektrokarren ohne KfZ-Zulassung, Unterschreitung von Mindestbreiten bei Fuß- und Radwegen, Straßenbahnen in Seitenlage, etc.
Die zuvor beschriebenen Aspekte sollen von den Mitgliedern des Projektes untersucht werden. Dabei soll herausgearbeitet werden, welche Rahmenbedingungen eine Voraussetzung für die beschriebene Planungskultur sind. Folgende Fragen sollen beantwortet werden
- Haben die Bewohner:innen, die Stadtverwaltung und die Stadtpolitik einen gemeinsamen Grundkonsens über Lebensqualität und Stadtentwicklung?
- Wie hoch ist die Akzeptanz der Finanzierung durch gesonderte Steuern
- Welche Bedeutung kommt der politischen Stabilität zu?
- Ist die langjährige politische Kontinuität als Ausdruck einer überwiegenden Zufriedenheit mit der Stadtentwicklung und dem Stand der Daseinsvorsorge zu sehen?
- Wie stark identifizieren sich die Bewohner:innen Wiens mit der Stadt und der Stadtpolitik?
- Welche Rolle spielt die Beteiligung dabei
Zur Beantwortung dieser Fragestellungen sind zunächst die Grundlagen und Rahmenbedingungen zu erarbeiten. Dazu gehören die Analyse der Gesetze, der Verwaltungsstrukturen und der Planungskultur sowie der stadtpolitischen Verhältnisse. Auf diese Weise werden die wesentlichen Unterschiede zu Berlin ermittelt und für die verschiedenen Handlungsfelder aufbereitet. Zentrales Element ist die Durchführung von mindestens einer Exkursion in die Stadt Wien. Die Bereitschaft zur Teilnahme an einer Exkursion im Mai 2022 sowie einer möglichen weiteren Exkursion noch im Laufe des Wintersemesters 2021/2022 ist daher eine Teilnahmevoraussetzung. Im Rahmen der Exkursion(en) werden mit maßgeblichen Akteur:innen aus Stadtplanung, Stadtpolitik, Gesellschaft und Wirtschaft Expert:innengespräche geführt. Zugleich werden wir uns vor Ort Best-Practice-Beispiele ansehen und der Identität der Wiener:innen mit ihrer Stadt nachspüren. Zu Beginn des Projektes werden wir über Videokonferenzen frühzeitig mit maßgeblichen Akteur:innen einen ersten Austausch ermöglichen.
Im Ergebnis zielt das Studienprojekt darauf ab, dass
- ein Wissenstransfer zur Behebung des Berliner Umsetzungsstaus erfolgt und
- ein konkreter Handlungsleitfaden mit klar definierten Vorgehensweisen bzw. Handlungsanweisungen erstellt und verbreitet wird.
Dieser Handlungsleitfadens soll eine Umsetzungsstrategie für die zentralen Handlungsfelder, konkrete Maßnahmen für eine lebenswertere Stadtraumgestaltung mit mehr Lebens- und Aufenthaltsqualität in Berlin, die schrittweise Verbesserung der Daseinsvorsorge in Berlin und Wege zur Beschleunigung der Mobilitätswende und für einen wirksameren Klimaschutz umfassen[1] https://www.wien.info/de/lifestyle-szene/lebenswerteste-stadt-350746, Zugriff: 13.10.2021
Weitere Informationen zur Veranstaltung auf ISIS.